10 Froschkonzerte, Bahntragödien und royale Dramen an der Nordspitze
In der nördlichsten Station des Landes zweifelten wir an unserer Eignung fürs Landleben, saßen auf nem Gleis fest und lernten, dass Dänen nicht immer hyggelig waren.
Unterwegs mit Eve und Basti
Ein Wohnexperiment quer durch Deutschland.
Von den Tücken des Naturidylls
Nach einem wuseligen Berlin und einem vollgepackten Lübeck war es Zeit für eine kleine Verschnaufpause. Wir zogen in ein von idyllischen Feldern und blühenden Wiesen umringtes Dörflein in der Nähe von Husby ein, das ganze sechs Häuser zählte.
In der kleinsten und (vermeidlich) ruhigsten Station unserer Reise wollten wir einen Monat lang einfach mal die Füße hochlegen. In Sachen Sightseeing blieb der Juni deshalb vergleichsweise ruhig.
Wir erwarteten nichts als reine Entspannung im Naturidyll. Beim Käffchen auf der Terrasse hörten wir morgens die Bienen aufwachen 🐝 . Aus dem Küchenfenster sahen wir mittags die Rehe übers Feld springen. Und abends konnten wir gemütlich – die Ohropax auspacken...
Willkommen zur Paarungszeit in der Wildnis. 🙌 ➡️
Umringt von Büschen, Bäumen und einem großen Teich waren wir so nah an der Natur, wir waren quasi Teil der Herde. Tagsüber trafen sich Vögel jeglicher couleur zum avianen Dating im Strauch neben dem Wohnzimmer oder auf dem Dachziegel vor dem Küchenfenster.
Was normalerweise als akustisches Feature der Naturentspannung gilt, glich zu Stoßzeiten eher einem chronischen Tinnitus. Gelegentlich mussten wir die Geräuschunterdrückung der Kopfhörer anschalten, um im Gezwitscher unsere eigenen Gedanken hören zu können.
Im Großen und Ganzen war der Vogel-Teil der Naturoperette aber ganz charmant. Im Gegenteil zu Akt II: „Die Abenddämmerung“.
Mit direktem Blick auf den Gartenweiher lagen wir in erster Reihe und konnten den Höhepunkt des quakenden Fortpflanzungszyklus jede Nacht in Surround Sound miterleben. Bis in die Morgenstunden hinein versuchten grüne Heerscharen mit nicht wiederzugebenden Lauten ihre weiblichen Pendants anzulocken oder ihr Revier im limitierten Nass zu verteidigen.
Dem Lärmpegel nach zu urteilen bestand die Bevölkerung des Gartenteichs vor allem aus Fröschen (nicht Kröten), denn die sind lauter und feuern sich gern gegenseitig an.
Froschkonzerte erreichen ungefähr 50 Dezibel. Besonders laute Quaker zur Paarungszeit bis zu 90 dB. Bei offenem Fenster lag der Pegel unseres Teichfestivals also irgendwo zwischen brummendem Kühlschrank und Presslufthammer.
Für dauerhafte Nachbarn kann das Leben mit den Lurchen dementsprechend stressig werden. Gartenweiher führen deshalb gern mal zum gerichtlichen Nachbarschaftsstreit.
Die Chancen, eine laufende Party in Nachbars Weiher zu sprengen, stehen allerdings schlecht. Amphibien zählen in Europa zu den gesetzlich besonders geschützten Arten. 🐸 Der Naturschutzbund behauptet außerdem „Frösche sind kein Lärm“ und diagnostiziert in der Bevölkerung einfach fortgeschrittene Naturentfremdung... 👀
Wer mitten in der Paarungszeit Natururlaub machen möchte, muss wohl mit dem Fallout leben. Für uns hieß es also einen Monat lang Ohren zu und durch.
Aber wer hätte schon ahnen können, dass man mitten in der Pampa nicht mal vor Verkehrslärm sicher ist... 🤡
Für ein Leben im Sumpfgebiet hatten wir uns auch aus einem anderen Grund disqualifiziert: Wir schafften genau 1,5 Spazierrunden durch gelbe Butterblumenwiesen und fluffige Gräsermeere, bevor wir das Areal um den benachbarten See auf unsere Sperrliste setzen mussten.
Dass eine hohe Konzentration an Gräsern selbst mit leichtem Heuschnupfen keine gute Idee ist, hä... hä... HÄTSCHU! 🤧 – hätten wir uns denken können. Während Basti nach einer Stunde ein „leichtes Kribbeln“ verspürte, hatten andere Personen (😑 👈) weniger Glück. Zwei Packungen Taschentücher später kehrten wir wieder um und verlegten alle folgenden Spazierrunden ins benachbarte Dorf. 🥲
Was wir aus unserem Monat in der Natur gelernt haben? Die romantische Vorstellung vom ruhigen Landleben kann von der Wirklichkeit abweichen – zumindest, wenn man in der Nähe amouröser Amphibien lebt. 💔
Einmal mehr begannen wir an unserer Eignung für ein Leben auf dem Land zu zweifeln. Die Frage, wo wir nach der Reise das Zelt aufschlagen sollen, war noch völlig offen. Der ewige Kampf zwischen Feinstaubbelastung und Frischluftidylle, Anbindung und Arsch der Welt, zu Fuß in den Biergarten und „kein Bock so weit zu fahren“, ungestörter Waldspaziergang und „Vorsicht, der Jogger will vorbei“...
Kulinarischer Einschub
Unsere Lübecker Fischbrötchen-Phase war in Husby noch nicht überstanden. Erst gegen Ende der Station setzten leichte Ermüdungserscheinungen ein. Dank fehlender Fischbude mussten wir die Brötchen hier in Eigenregie belegen. Im Gegensatz zur traurigen Auswahl gen Süden gab’s im Norden zumindest noch reichlich Auswahl an Remoulade im Supermarkt. Der „dänischen Art“ waren ganze Regale gewidmet. In der geschmacklich substanzielleren Variante sind noch Dinge wie Weißkohl, Blumenkohl oder Zwiebeln drin – und Curry für die gelbe Farbe. 😋
Die Logistik der Lebensmitteleinkäufe war manchmal eine Herausforderung: Am Ende der Station durfte nicht zu viel übrig bleiben. Der Stauraum im Auto war ausgereizt. Eine Gurke zu viel und der Kofferraum ging nicht mehr zu.
Wir optimierten also nach und nach die Resteverwertung – mittels Pizza. 🍕 Den Hefeteig hatte Basti schon lange perfektioniert. Meist fehlte nur das passende Werkzeug zum Teigplätten. Die Ausstattung fremder Küchen war grundsätzlich ein Roulette-Spiel. Mal fehlte ne Schere, mal ein Schwamm. Die Chance auf ne Käsereibe stand bei 50%. Ein Nudelholz war fast schon ein Glückstreffer. Aber zur Not tat's auch die Trinkflasche...
Wie Glücksburg ganz Europa beglückte
Um unsere kulturelle Bildung nicht ganz zu vernachlässigen, besuchten wir an einem Wochenende das Schloss Glücksburg.
Das Wahrzeichen der gleichnamigen Stadt Glücksburg in Schleswig-Holstein gehört zu den wichtigsten Renaissanceschlössern Nordeuropas – ist aber kein rein deutsches Kulturgut:
Die politisch-territoriale Zugehörigkeit Schleswigs war (wie alles, was mit deutscher Geschichte zu tun hat) unnötig kompliziert. Zur Zeit der Entstehung des Wasserschlosses war Schleswig als Herzogtum rechtlich eigenständig, gehörte aber formell zum dänischen Herrschaftsgebiet. 🇩🇰
Johann der Jüngere, Herzog von Schleswig und Sohn des dänischen Königs, war damals hauptsächlich mit Hausbau und Kinderproduktion beschäftigt. Neben diversen anderen Schlössern ließ er 1587 auch das von Wasser umringte Ensemble in Glücksburg errichten. – Mehr Real Estate für seine 23 Sprösslinge...
Doch bevor wir genauer auf die Folgen Johanns brennender Lenden eingehen, nochmal zurück zu Dänemark und der verwirrenden Saga Schleswigs:
Dänen waren nicht immer die entspannt-progressiven Fahrradliebhaber, wie wir sie heute kennen. Statt Hygge stand ab der Wikingerzeit harter Expansionskurs auf dem Programm. Im Laufe der Zeit erweiterte das dänische Königreich sein Imperium neben Schleswig noch um Ferienresorts wie Holstein, Island, die Färöer, Grönland oder Norwegen.
Dank Napoleonischer Kriege und Staatsbankrott verspielten die Dänen Norwegen vorzeitig an Schweden. Schleswig blieb ihnen noch fünfzig Jahre länger erhalten. Erst mit dem dänischen König Christian IX. (dessen Lenden für Glücksburg auch noch relevant werden), begann schließlich der Anfang vom Ende.
Viele Dänen wollten die südliche Landesgrenze schon lange weiter unten sehen und 1863 ließ sich der frisch gekrönte Christian so lange vollquatschen, bis er den Wunsch endlich in die Tat umsetzte.
In einer neuen Verfassung schweißte er Schleswig offiziell ans dänische Kerngebiet und machte es damit so richtig 100% dänisch. – Wie die gute Remoulade...
Das Haltbarkeitsdatum Schleswigs lief aber ziemlich schnell ab. Christians Vorgänger hatte einige Jahre zuvor einen Wisch unterschrieben und darin zugesichert, dass Dänemark seine Griffel von Schleswig lässt. Preußen und Österreich fühlten sich vom Vertragsbruch folglich leicht tangiert. – Es gab mal wieder Krieg.
In den Deutsch-Dänischen Kriegen schnappten sich P & Ö Schleswig und Holstein und teilten die Verwaltung des Kuchens untereinander auf. Der bröcklige Frieden hielt knapp ein Jahr, bis sich die beiden auch nicht mehr riechen konnten. – Es gab mal wieder Krieg.
Bismarck, der alte Hering, wartete nur darauf, die WeltVorherrschaft an sich zu reißen und marschierte ins von Österreich verwaltete Holstein ein.
Doch die große Schlacht blieb aus. Er konnte die Österreicher nur noch von hinten sehen, denn den Stress wollte sich keiner mehr antun. Und so wurde aus S und H schließlich SH.
In der neuen preußischen Provinz Schleswig-Holstein waren alle vom ständigen Hü und Hott genervt. Die Auswanderung stieg sprunghaft an, besonders nach Amerika , wo nach Ende des Bürgerkriegs langsam das Gilded Age begann. 🥂
Nach ein paar Jahrzehnten Verschnaufpause nahm das schleswigische Teilungsdrama dann sein heutiges Ende:
Bei einer Volksabstimmung nach dem Ersten Weltkrieg stimmte „Nordschleswig“ – das immer eine vorwiegend dänische Bevölkerung hatte – für eine Rückkehr nach Dänemark und gehört heute zu Südjütland. 🇩🇰 „Südschleswig“ stimmte für den Verbleib in Deutschland und ist damit das heutige S im SH. 🇩🇪
Im deutschen Schleswig gibt es immer noch eine dänische Minderheit von knapp 50.000 Menschen, die die dänische Sprache und Kultur pflegen. Mitsamt eigenen Kindergärten, Schulen, Vereinen und ner dänischen Tageszeitung.
Nachdem wir jetzt wissen, wie Glücksburg eingedeutscht wurde, geht's weiter zum versprochenen Lendenfeuer 🔥. Das Wasserschloss mit deutsch-dänischem Hintergrund gilt nämlich als „Wiege der Europäischen Königshäuser“ .
Johann, der Glücksburger Bauherr, war nicht sehr strategisch beim Einsatz seiner 23-teiligen Nachkommenschaft. Er legte aber den Grundstein für die spätere Dynastie.
Aus seinen Linien und Nebenlinien entstand irgendwann die Linie „Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg“ – und Christian der IX. (Der mit dem Vertragsbruch)
Der spätere dänische König, verbrachte einen Teil seiner Kindheit auf Schloss Glücksburg. Seine vergleichsweise spärliche Ausbeute an 6 Nachkommen positionierte er später so gewinnbringend, dass ihm der Titel „Schwiegervater Europas“ verliehen wurde. Mehrere seiner Kinder landeten auf einem europäischen Thron und in fast allen bedeutenden europäischen Königshäusern fanden (und finden) sich seine direkten Nachfahren.
Als der dänische König seine kleinen Glücksburger auf dem europäischen Spielfeld platzierte, hatte sich Bismarck bereits Schleswig geangelt, und Schloss Glücksburg war eigentlich deutsch. Es galt aber weiterhin als Stammsitz der Glücksburger Linie. Aus diesem unlogischen Grund darf sich das Schloss in Touri-Broschuren weiterhin damit rühmen, ganz Europa beglückt zu haben, sowie „Royales Feeling der Extraklasse mit Märchenfaktor“ zu bieten.
Sechs der zehn aktuellen europäischen Royal Families stammen direkt aus der Glücksburger Linie und thronen in Dänemark, Belgien, Norwegen, Spanien, Luxemburg – und England. Prinz Philip, der Vater von King Charles, stammt aus dem Haus Glücksburg.
Dynastisch regelkonform müsste im Wikipediaeintrag von Charles III. also „House: Glücksburg“ stehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man als britischer Royal aber Unbehagen, sich mit deutschen Bezügen zu bekleckern und damit seinen Popularitätsindex über eine Klippe zu stürzen. Vor der Heirat mit der Queen entschied sich Philip daher, nur den mütterlichen Namen Mountbatten weiterzuführen.
Die Queen negierte später ohnehin die männliche Namenstradition: Trotz des "Mimimi" von Philip entschied sie: Der Name des englischen Königshauses ist und bleibt "House: Windsor." – Glücksburg hatte also niemals eine Chance auf des Königs Wikipedia.
Nach diesem königlichen Crashkurs sollten wir nun alle bestens gewappnet sein für zukünftige Marmorkuchen-Seniorenrunden bei der RTL-Liveübertragung der nächsten royalen Traumhochzeit. (Nichts zu danken 👍)
Wer bei der Vorstellung solcher Fernsehabende innerlich Schmerzen verspürt und ein paar actiongeladenere tidbits für den Partysmalltalk braucht, wird beim nächsten Stopp der Tour fündig: ~ Foltermethoden ~
Nachdem wir die Wohnbereiche des Schlosses und die Zimmer der Dienerschaft im Dachgeschoss bewundert hatten, beendeten wir den Rundgang durch Glücksburg am unteren Ende der Treppe.
Im Kellergeschoss – das zur Hälfte unterhalb des Wasserspiegels liegt – befanden sich früher Küche, Vorratsräume und ein kleines Gefängnis. Heute findet man hier die Folterkammer. (Der populärste Teil der Tour bei 5- bis 10-Jährigen. 👀 .)
Streckbank und Brustzange liegen hier nicht, weil auf Glücksburg besonders viele Menschen malträtiert wurden, sondern als Ausstellung über historische Praktiken ... des Schmerzes.
Im Hochmittelalter wurde das „freiwillige“ Geständnis durch Folter immer wichtiger für die strafrechtliche Beweisaufnahme. Nach „religiöser Logik“ damals total sinnvoll: Wenn ein Schuldiger gestand, konnte er trotz Todesstrafe in den Himmel einziehen – verhängte der Richter aber ein Fehlurteil über einen Unschuldigen, wurde für ihn automatisch ein Platz in der Hölle reserviert.
Als das Schloss Glücksburg entstand, hatte man den exzessiven Einsatz von Folter und Todesstrafe schon etwas zurückgefahren und forderte zumindest ein paar Indizien als Beweis. Die Folter musste jetzt korrekterweise unter Aufsicht stattfinden – komplett mit Protokoll und Augenzeugen und so. Der Scharfrichter wurde sogar darum gebeten, „möglichst keine bleibenden Schäden zuzufügen“ 👀 ...
(also nur, wenn's keine Umstände macht und so).
Wurde unter Folter ein Geständnis abgelegt, musste die Person ihre Aussage später vor dem Richter nochmals bestätigen. Widerrief jetzt eine potenzielle Hexe ihr Geständnis, wurde sie (mit Glück) nur verbannt 👋 statt verbrannt 🪵🔥.
Während Delinquentenführer und Schandgeige eher als Demütigungsinstrumente verwendet wurden, ging es mit Folterstuhl, Streckbank und Brustzange schon zur Sache. Das zu wählende Folterinstrument wurde übrigens vom Gericht bestimmt. – Musste ja alles seine Ordnung haben.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde Folter als Ordnungsmittel langsam abgeschafft – oder zumindest weiterentwickelt (Vorsicht Sarkasmus). Heutzutage verwendet man den zivilisierteren Begriff Enhanced Interrogation Techniques.
Alles wäre so einfach gewesen, hätte man damals auf den kreativen Vorschlag aus Zwickau gehört:
*„Als Alternative zur Folter empfahl die Zwickauer Stadtrechtsreformation Mitte des 16. Jahrhunderts, einen Gerichtsknecht zum Gefangenen zu schicken, der sich mit dem Verdächtigen betrinken sollte – um ihn in Redelaune zu bringen und ein Geständnis zu entlocken.“ 🍻 * – Effizient, freundlich und komplett brustzangenfrei...
Nach diesem eher beklemmenden Abschluss der Tour hatten wir eine kleine Aufmunterung nötig.
An Ententeich und Orangerie vorbei, spazierten wir in den Ort Glücksburg. Nach Kuchen und Quiche im Café am Schloss und einem Spaziergang durch den benachbarten Rosengarten (die ehemalige Schlossgärtnerei) sah die Stimmungslage schon deutlich besser aus.
Um das königliche Mahl vor der Abfahrt abzutrainieren, folgte noch eine Umrundung des Schlosssees – dem man seine unnatürliche Entstehung gar nicht ansieht.
Um das Wasserschloss zu bauen, ließ der Herzog das ursprünglich ansässige Kloster abreißen, das gesamte Gelände fluten und das Wasser zu einem Schlossteich aufstauen. Der See war nicht nur als natürlicher Festungsgraben gedacht, sondern auch als Fischteich. Die Versorgung des Hofes mit Fischbrötchen war damit gesichert. 🎣 Für die Baumaßnahmen machte der Herzog insgesamt 6000 lübische Mark locker – oder den damals verständlicheren Betrag von 1200 Rindern. 🐄
Schienen-Safari und Sondierung im Sanitärtrakt
Unsere nächste und unerwartet abenteuerliche Reise in Station 10 war privater Natur und führte uns noch einmal zur Familie in den Süden.
Für unsere zweite Spritztour quer durch Deutschland wählten wir statt Schlafkapsel mit Schlafentzug lieber die sitzende Variante mit Tageslicht. Um in den ICE steigen zu können, mussten wir aber erst nach Hamburg kommen:
Nach kurzem Zittern um einen freien Parkplatz landeten wir am Reisetag zunächst am Flensburger Bahnhof. Hier bot sich vor der zweistündigen Zugfahrt nach Hamburg ein kurzes Austreten im Bahnhofsgebäude an.
– Sogleich begann Teil Eins der Safari...
Der erste Vorbote des Unheils war eine Dame mit blassem Gesicht und starrem Blick, die im Eilschritt aus der Porzellanabteilung 🚻 floh und „...mir ist schlecht ...mir ist schlecht...“ vor sich hin stammelte. Doch die Münze war schon in den Kassenautomaten am Eingang geworfen. Also Nase zu und durch?
Eine kurze Sondierung des Sanitärtrakts zeigte das Ausmaß der Verwüstung. Eine Szenerie wie aus einem Kriegsfilm. Jede einzelne Kabine war Opfer eines desaströsen Darmageddon geworden. Im Waschbecken hatte sich bereits ein Bataillon gepanzerter Sechsbeiner verschanzt. 🪳 Der Reinigungstrupp musste schon monatelang MIA sein. Es blieb nur eine Option: „Operation Toitoi“ musste vorzeitig abgebrochen werden.
Vor dem taktischen Rückzug rasten ein paar letzte Gedanken durch den Kopf: „Sollte man ein Beweisfoto schießen? War die Bahnhofsverwaltung über die Kackastrophe informiert? Bereicherte sich jemand trotz unterbliebenem Mopp-Einsatz am Münzautomaten?“ – Doch das Verlassen der Gefechtszone hatte oberste Priorität...
Einen Euro ärmer und um eine traumatische Erinnerung reicher, saßen wir schließlich in der Regiobahn und hofften auf eine weniger verstörende Weiterreise.
Wir hatten tatsächlich Glück: Die Fahrt im ICE war angenehm ereignislos – ja fast schon entspannend.
Ein pünktlicher Zug. Ein freier Vierersitz mit Tisch. Leute, die im „Pssst“-Abteil tatsächlich die Klappe halten und keine Telefongespräche führen. Und auch noch funktionierende Toiletten. Was will man mehr? 💆♀️
Die Zeit verging wie im Flug. Nach knapp sechs Stunden rollten wir auch schon in Augsburg ein.
Lange war unklar, ob eine Reise in den Süden überhaupt möglich sein würde: Zeitweise waren Teile der Strecke gesperrt und Züge standen still. Das Jahrhunderthochwasser hatte die Gleise unterspült. Erst zwei Tage vor unserer Abreise lief der Zugverkehr wieder an. Als wir nach Bayern einfuhren, glichen die Felder immer noch Seelandschaften.
Die Überflutungen erinnerten ein wenig an das berüchtigte Pfingsthochwasser von 1999. Die letzte prägende Hochwasser-Erinnerung unserer Kindheit:
Während Bastis Familie damals aus dem Italienurlaub bangte, bei der Rückkehr ein trockenes Zuhause vorzufinden, saß man 90 Kilometer weiter schwitzend im Haus von Eves Eltern und beobachtete den Grundwasserspiegel, der sich langsam durch den Kellerboden drückte.
Genau auf jenem Kellerboden lagerte jetzt gerade unsere Couch. Wir machten uns keine große Hoffnung, unser einzig verbliebenes Polstermöbel lebend wiederzusehen. Doch während in einigen Orten sogar evakuiert werden musste, durften unsere Familien einmal mehr auf Holz klopfen: Der Gemüsegarten war abgesoffen, aber die Füße waren trocken geblieben und selbst die Couch kam ohne Schwimmflügel durch. 🍀
In Augsburg angekommen, zogen wir zum dritten Mal seit Reisebeginn in einem AirBnB im Hotelturm ein. Fast schon unser zweites Zuhause – und praktisch in Laufnähe zum Bahnhof.
In unserer nomadischen Abwesenheit hatte sich in der Stadt einiges verändert. Sogar die modernisierte Dauerbaustelle des Bahnhofs war eröffnet. Dank neuem Westzugang konnten wir vor der Abreise ein paar Minuten länger schlafen. Eine gute Investition, denn der Tag sollte noch lang werden...
Nach zwei Tagen zwischen Augsburg und Allgäu ging es schon wieder zurück. Weil unsere Anfahrt so entspannt gelaufen war, dachten wir „die Rückfahrt wird sicher genauso smooth 🙌“. Doch das Universum hatte andere Pläne und dachte sich am Morgen der Rückreise: 👉
Der Abreisetag begann noch friedlich – zu friedlich... 🤨. Keiner hatte verschlafen, die Tickets waren gebucht und der Zug sollte laut App pünktlich ankommen. Um 8:30 Uhr schlenderten wir guten Mutes durch den Westzugang.
Noch ein kurzer Blick aufs Handy, um das Abfahrtgleis zu checken – dann die erste Komplikation: „Verbindung nicht möglich. Zug entfällt wegen kurzfristigem Personalausfall.“
Das war jetzt ein wenig ... unpraktisch ... so ne halbe Stunde vor Abfahrt. Aber vielleicht lag es noch am Hochwasser-Chaos. Kann man nix machen. Unsere reservierten Plätze waren zwar passé, aber irgendwas fährt ja immer Richtung Norden...
Die Auswahl an Alternativen war spärlich und die Anzeigetafeln ziemlich rot. Unsere beste Option war ein ICE nach Würzburg mit Anschluss nach Hamburg. Aber mit dieser Idee waren wir nicht alleine …
Als der Zug mit 45 Minuten Verspätung einfuhr, sprangen wir leicht gestresst hinein und begaben uns auf die lange Suche nach einem Sitzplatz für die nächsten 2 Stunden. – Korrektur: 4.5 Stunden. 😪
Wir hatten es ohne Zwischenfälle kurz vor Würzburg geschafft, als der Zug ungeplant zum Stehen kam: „Seeehr geehrte ... leider können wir noch nicht in Würzburg einfahren. Es warten noch fünf weitere Züge vor uns. Ich informiere Sie, sobald wir mehr wissen.“
Die Lokführerin saß selbst lange im Dunkeln. Irgendwann stellte sich heraus: Personen auf dem Gleis hatten einen großräumigen Polizeieinsatz verursacht, und der Bahnhof wurde auf unbestimmte Zeit gesperrt. Weil Würzburg eines der wichtigsten Bahn-Drehkreuze in Deutschland ist, stapelten sich jetzt in allen Richtungen wartende Züge auf den Gleisen.
Nach einer Stunde und mehreren Durchsagen fuhren wir notgedrungen in einen kleinen Bahnhof ein. Eine Umleitung war nicht möglich. Würzburg war dicht.
„Seehr geehrte... wir werden jetzt die Türen öffnen, falls Sie frische Luft schnappen oooder 1...2...3... rauchen möchten 🤡", verkündete die Lokführerin noch überraschend gut gelaunt. Unser ICE war weiterhin im Örtchen Marktbreit gestrandet und ragte nur ganz leicht über den für Regionalzüge konzipierten Bahnsteig hinaus.
Nach einem kleinen Outing an der frischen Luft holten wir uns eine Flasche des inzwischen kostenlosen Wassers 🎉. Hinter, neben und vor uns beschwerten sich Leute derweil lautstark, dass sie „ihren Termin in Berlin jetzt verpassen“, dass es „das wohl war, mit dem Konzert heute Abend“ oder sie „nur einmal im Jahr den Zug nehmen und dann sowas! Das ist das letzte Mal, dass ich mit der Bahn gefahren bin!“
Doch irgendwann hatte das Warten ein Ende. Mit mehreren Stunden Verzug fuhren wir doch noch in Würzburg ein (wo komplettes Chaos herrschte) und kämpften uns in den nächsten ICE Richtung Hamburg.
Zugfahrt Nr. 2 lief erstmal ganz ok. In einem anderen Abteil fiel die Klima aus und die 1. Klasse wurde freigegeben 🍾 . Wir blieben guter Dinge – bis zur nächsten Durchsage. Auf Höhe Kassel knisterte das Mikro: „Seehr geehrte... leider können wir heute nicht bis nach Hamburg fahren, der letzte Halt ist heute Hannover!". 🤌 🙄
Dank Bahnchaos hatte der Lokführer wahrscheinlich sein Arbeitszeitlimit erreicht. Und mit spontanem Mitarbeiterersatz war an einem Tag wie diesem nicht zu rechnen. Zwei Fahrgäste, die seit Augsburg mit uns unterwegs waren, brachen schon in hysterisch-verzweifeltes Lachen aus. Aber wir mussten uns alle unserem Schicksal ergeben ... und Zug Nr. 3 finden. 😪
Um 17:40 Uhr saßen wir noch am Bahnhof in Hannover und warteten... und warteten. In einem pünktlichen Paralleluniversum wären wir jetzt schon in Flensburg ins Auto eingestiegen. 🥲
„Nicht mehr lange... Nicht mehr lange... “, war unser Meditationsmantra drei Stunden später in der Regionalbahn. Doch kurz vor Hamburg schon wieder eine verf*#%$ Durchsage: „Sehr geehrte ... leider können wir heute nicht bis nach Hamburg Hauptbahnhof fahren, dieser Zug endet in Harburg!“. 😭 🔫
Harburg. Wundervoll. Also nochmal suchen, nochmal warten, nochmal wechseln. Mit Zug Nr. 4 landeten wir um 20:30 Uhr nervlich durchgepeitscht in Hamburg und freuten uns extreeemst auf zwei weitere Stunden Zugfahrt nach Flensburg. – Zug Nr. 5
Umgeben von Finsternis rollten wir schließlich auf den heimischen Parkplatz. Nach 14 Stunden Reise freuten wir uns fast schon auf das nächtliche Geschrei aus dem Froschteich. Hauptsache gebettet statt Safari auf dem Gleis... 😴
Alles mögliche im Abspann...
Bei Fahrten durch norddeutsche Landschaften ist uns eines immer wieder aufgefallen: die Gärten. In keinem anderen Teil des Landes sahen die Vorgärten derart posh aus – wenn man das mal so sagen darf. Das war schon wirklich englisches Rasen-Niveau. Manchmal fast schon französische Kleingartenanlage. Leider haben wir vergessen, von den fancy Bespielen ein Foto zu schießen. Man kann nur spekulieren, was zu dieser akkuraten Vorgartenästhetik führt. Norddeutscher Ordnungssinn? Ausufernde Nachbarschafts-Competition?
Viel mehr als Schafegucken und durch die Gegend latschen, schafften wir den Rest des Monats nicht mehr.
Für eine Tour durch Flensburg fehlte ebenfalls die Energie. Wir setzten die Stadt zumindest auf unsere Todo-Liste für die Zukunft. Damit der spezielle Eindruck durch den Bahnhof nicht die einzig prägende Erinnerung bleibt 😬 ...
Um das Meer wenigstens einmal live gesehen zu haben, legten wir vor der Abreise aus Husby nur noch einen letzten Kurztrip nach Langballig ein.
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Der Strand des kleinen Ortes Langballig liegt an der Flensburger Förde. Durch das Gewässer verläuft auch die deutsch-dänische Grenze. Die grünen Landschaften auf der anderen Seite gehören damit schon ins Nachbarland Dänemark – unser nächstes Reiseziel. 🇩🇰
Unsere Brezel-Route hatten wir extra so geplant, dass wir Ende Juni nach Kopenhagen übersetzen konnten. Station 11 war allerdings nicht als reiner Urlaub geplant. Der Abstecher über die Grenze diente vor allem der Feldforschung. 😏 👋
Veröffentlicht 14.05.2025
Letztes Update 22.06.2025